Das war zu viel. Damit hatte ich wahrlich nicht gerechnet. Wir wollten Geschichte erleben beim Hexenfest auf der steirischen Riegersburg. Und jetzt das. Da saßen wir. Neben mir ein zusammengekauerter Julius, ein zitternder Xaver und ein faszinierter, mit großen Augen alles in sich aufsaugender Emil. Und ich, gebannt und ratlos: Das war zu gruselig! Zu nah, zu eindringlich, zu aggressiv das Schauspiel, das sich im hintersten Burghof abspielte. Ein Schauspiel, das mich sehr nachdenklich gemacht hat: Wie viel Hexe, wie viel Ritterkampf und wie viel Gruselgeschichten für Kinder sind eigentlich ok?
Gruselgeschichten für Kinder zu viel
Mit meinen blauen Birkenstockschlapfen an den ausgestreckten Füßen konnte ich sie fast berühren. Die Hexe! Rote Haare, dunkel geschminkte Augen, dazu ein schwarzes Kleid im Gothic-Stil. Ein Fetzen ihres Unterrockes wehte an unseren Nasen vorbei. Und der Ritter, der von ihr besiegt auf dem knubbeligen Steinboden lag, suchte Julius Blick. Besiegt war er, der Hetzer und Ketzer, besiegt von den Kräuter- und Blumenhexen und deren höchstpersönlichen Schutz-Rittern der Riegersburg, die sich auf die Angreifer schmissen. Und wir nahe dran. Zu nahe. Und förmlich überrumpelt von der Intensität des dargebotenen Schauspiels.
Was für Stefan und mich befremdlich und in Teilen sogar Grund zum Fremdschämen ist, dafür haben die Kids natürlich ganz andere Augen und Maßstäbe. Sie erkennen nicht das heraus gewaschene Henna in den Haaren dieser “Hexe”. Nicht den verwischten Kajal, der dieser jungen Frau genauso gut von der Party am Vorabend übrig geblieben sein könnte. Und auch nicht das Pandora-Armband, das unter dem Kleidärmel hervorblitzt. Die Jungs hören vor allem die kreischenden, hohen Stimmen. Sie spüren die Aggression, die zwischen Männern und Frauen hochstilisiert wird, und sie sehen aufgerissene Augen und Münder.
Mit Kinderaugen schaut es anders aus
Mittelalterliche Geschichte live zu erleben, ist für uns und für die Jungs eigentlich nichts Neues. Auch beim Ritterfest auf der “Kärntner Heimatburg” Hochosterwitz oder beim Spectaculum in Friesach haben wir uns kämpfende Ritter oder andere zauberhafte Gestalten angeschaut. Doch diesmal hatte das Schauspiel eine neue Dimension. Mit zuviel Grusel und zu wenig Geschichte.
Übertrieben im Hexenklischee verblieben die Darstellerinnen, mit spitzen Stimmen und lautem, verhängnisvollem Lachen. Uns Erwachsenen zeigen sie damit genau das, was der Hexenmythos wirklich war – eine Überstilisierung von dem, was wir als “Böse” bezeichnen. Völlig fern von der Realität der Hebammen, Kräuterexpertinnen, Heilerinnen oder einfach klugen und schönen Frauen zur damaligen Zeit. Die Kinder jedoch können dies noch nicht begreifen.
Erklärungen, bitte
Wie abstrakt die Kinder die Zeit der Hexen und Ritter mit Burgen, Plumpsklos und Pferden wahrnehmen, habe ich erst bemerkt, als es schon zu spät war. Der echte Kampf zwischen den verkleideten Männern einer lokalen “Historien-Gruppe” hatte nichts von den glitzernden, strahlenden und phantasievollen Vorstellungen, die unsere Jungs sich von der Ritterzeit gemacht haben. Der tatsächliche Kampf – und dann noch direkt vor unseren Füßen – das war zuviel. Zu viel komischer Mann, zu viel Blickkontakt, zu viel spürbare Gewalt, zu viel echte, spürbare Gruselgeschichten für Kinder, einfach zu nah! Auch hier: Die Story fehlte. Es fehlte die Erklärung, warum eigentlich wirklich gekämpft wurde. Die einen beschützen, die anderen greifen an? Das ist für unsere Kids zu wenig. Und vor allem: Was passierte danach?
Wie anders war das Zwiegespräch zwischen Emil und einem – ebenfalls als Ritter verkleideten – Mann in der Ausstellung auf der Burg keine 10 Minuten vor der Aufführung. Emil war das kleine Loch in dessen Turniergewand aufgefallen. Der Mann stieg gleich drauf ein und erzählte seine Geschichte dazu: Dass ihn dort ein anderer Ritter mit dem Schwert verletzt hatte. Und über den Grad der Verletzung und den Heilprozess. Und auch was dann mit dem anderen Ritter geschah. Alles war Teil einer lebhaften Diskussion. Keine Gruselgeschichte für Kinder mit Hauen und Stechen. Sondern Teil der erlebten Geschichte auf der Burg.
Geschichte erleben: Audio statt Video
An diesem Wochenende auf der Burg, aber auch schon davor, von Butrint bis nach Rom, habe ich auf unseren Reisen in Dankbarkeit zu meinen Latein- und Kunstlehrern versucht, aus der Geschichte Geschichten für die Jungs zu machen. Ich habe einfach von den Menschen erzählt: Von dem kleinen römischen Jungen, der staunend am Amphitheater vorbeigeht und weiß, dass da die Löwen mit ihren knurrenden Mägen auf ihren Auftritt warten. Von dem Mädchen, das am Spinnrad in der Kemenate sitzen muss, obwohl sie viel lieber mit ihren Brüdern im Wald herumrennen würde. Und von der Heilerin, die die blutende Wunde des Ritters mit Heilkräutern bedeckt und gesund pflegt. Eher Audio mit ruhigen Zeitdokumenten statt echtem “Video” wie auf der Riegersburg. Und das ist in meinen Augen auch gut so.
Denn die echten, bewegten Bilder wie der Skanderbeg-Film im Museum in Kruja oder der “echte” Ritterkampf auf der Riegersburg sind dann doch einfach eine Nummer zu viel. Zu viel Gruselgeschichten für Kinder. Und vor allem zu eindrücklich. Denn das sind die Bilder, die bleiben. Das sind die Bilder, die zu einer Überbevölkerung unseres Bettes in der Nacht führen. Und ganz unabhängig davon, wie viele Kinder so in unserem Bett schlafen: Geschichten erzählen um Geschichte zu erleben. Das reicht schon.
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